Vitamintabletten und Nahrungsergänzungsmittel verhindern Herz-Kreislauf-Erkrankungen NICHT. Eigentlich ist das unbestritten. Es gab zahlreiche Studien, die sowohl einzelne Substanzen als Nahrungsergänzungsmittel als auch Multivitamin-Kompositionen untersucht haben. Den fehlenden Nutzen konnten sie sehr deutlich belegen.
Trotzdem müssen wir bei jeder Diskussion über den Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln wieder darauf hinweisen, dass diese Produkte aus der Apotheke oder Supermarkt nichts bringen, beklagt der Kardiologe Dr. Christopher Labos vom Queen Elizabeth Health Complex im kanadischen Montreal. Er diskutiert, warum die Patienten, obwohl sogar eher die Nachteile überwiegen. Hier seine Analyse der erstaunlichen Widersprüche:
Schon im Jahr 1996 lagen mit der Physicians´ Health Study die Ergebnisse einer über 12 Jahre laufenden Untersuchung an über 22.000 Männer vor. Sie hatten nach dem Zufallsprinzip über diesen Zeitraum die Vitamin-A-Vorstufe Betacarotin oder Placebo erhalten. Damals hatte sich bei der Auswertung kein Unterschied hinsichtlich der Häufigkeit von kardiovaskulären Erkrankungen, von Krebs-Erkrankungen oder der Gesamtmortalität ableiten lassen.
Die Women´s Health Study an fast 40.000 Frauen über 45 Jahre verglich Betacarotin mit Placebo und konnte in Bezug auf den Schlaganfall, den Myokardinfarkt oder die kardiovaskulär bedingte Sterblichkeit ebenfalls keinen Nutzen feststellen. Stattdessen zeigten andere Studien Nachteile: Betacarotin erhöhte bei Rauchern sogar das Risiko für Lungenkrebs.
Die Evidenz für Vitamin C und Vitamin E ist gleichermaßen enttäuschend. Obwohl die Hoffnung groß war, dass sie als Antioxidantien einen gewissen Nutzen haben könnten. Die zweite Physicians´ Health Study an über 14.500 Männern verglich Vitamin E, Vitamin C oder beides mit Placebo und fand: Die Häufigkeiten von Schlaganfall, Herzinfarkt oder die kardiovaskuläre Mortalität hatten nicht abgenommen.
Die Women's Antioxidant Cardiovascular Study testete über 9 Jahre Betacarotin, Vitamin C und Vitamin E an fast 8.200 Frauen und konnte auch keinen Benefit feststellen.
Folsäure, ein Vitamin des B-Komplexes, trägt bekanntlich zur Senkung des Homocystein-Spiegels bei, was zunächst vielversprechend schien, aber in nachfolgenden Studien mit keiner Verringerung an kardiovaskulären Erkrankungen verbunden war.
Auch potentielle Vorteile einer Vitamin-D-Supplementierung sorgten eine Weile für Aufsehen. Doch konnte kürzlich die ViDa-Studie auch keinen kardiovaskulären Nutzen der Vitamin-D-Gabe zeigen. Die VITAL-Studie wird vermutlich zum letzten Sargnagel für das Vitamin. Die US Preventive Services Task Force kam in einer Analyse der Datenlage zu dem Schluss, dass eine Vitamin-Supplementierung keinen Nutzen bringe.
All die negative Evidenz kumulierten schließlich in einem Artikel der Annals of Internal Medicine mit der Überschrift: „Es reicht! – Hört endlich auf, euer Geld für Vitamine und Mineralstoffe zu verschwenden!“.
Verkäufe steigen ungebremst weiter
Wir geben tatsächlich jede Menge Geld dafür aus. Nahrungsergänzungsmittel erreichen weltweit einen Umsatz von 133 Milliarden Dollar, Tendenz steigend. Omega-3-Produkte zählen zu der am schnellsten wachsenden und beliebtesten Gruppe von Nahrungsergänzungsmitteln auf dem Markt. Der Verkauf von Fischöl hat sich zwischen 1999 und 2012 verzehnfacht. Der Vitamin-D-Absatz hat sich „nur“ vervierfacht.
Die aktuellen negativen Studien wie ASCEND, VITAL und eine große Metaanalyse der Cochrane Collaboration, die keinen kardiovaskulären Nutzen zeigen, dürften den Umsatz ebenfalls kaum beeinträchtigen.
Warum kaufen dann Menschen immer noch Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel? Umfragen zufolge gibt es dafür verschiedene Gründe. Der National Health and Nutrition Examination Survey ergab, dass die meisten Menschen Nahrungsergänzungsmittel zur „Verbesserung“ oder „Erhaltung“ der allgemeinen Gesundheit einsetzen.
Einige gaben medizinisch vertretbare Gründe an, wie etwa Kalzium oder Vitamin D für die Knochengesundheit oder Eisen gegen eine Anämie. Allerdings berichteten andere, dass sie Fischöl für die Herzgesundheit oder Vitamin C zur Stärkung des Immunsystems einnähmen. Gründe, welche angesichts der Datenlage nicht gerechtfertigt sind.
Es scheint also, dass viele Menschen Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel einnehmen, weil sie glauben, dass es sie gesünder macht. Ironischerweise zeigte eine Analyse, dass die Nutzer von Nahrungsergänzungsmitteln in der Regel bereits sehr gesund sind. Im Vergleich zu Nicht-Nutzern sind sie seltener adipös, treiben mehr Sport und rauchen weniger als Personen, die keine Vitamine einnehmen.
Ein weiterer Widerspruch wurde durch eine Umfrage unter rund 2.200 erwachsenen US-Amerikanern offenkundig. Fast 90% der Befragten stimmten der Aussage zu: „Multivitamin- und Mineralstoffpräparate können Menschen helfen, einen Nährstoffbedarf zu decken, der nicht allein durch Lebensmittel gedeckt werden kann“.
Aber paradoxerweise stimmten 80% auch der Aussage zu: „Multivitamin- und Mineralstoffpräparate sollten nicht als Ersatz für gesunde Ernährungs- und Lebensgewohnheiten verwendet werden“.
Auch scheint eine gewisse Skepsis durchaus in den Köpfen präsent zu sein: 75% stimmten dem Satz zu, dass „Multivitamin- und Mineralstoffpräparate nicht dazu bestimmt sind, Krankheiten zu heilen“. Auch wenn ein Nährstoffmangel in der Bevölkerung sehr selten ist, sehen viele Menschen in Nahrungsergänzungsmitteln eine Möglichkeit, potentielle Defizite auszugleichen. Gleichzeitig erkennen sie an, dass sie dies lieber nicht tun sollten und dass Vitamine keine Krankheiten heilen. Die Verbraucher handeln ambivalent.
Offensichtlich können die Gründe, warum Menschen diese Produkte einnehmen, altersabhängig variieren. Ältere Erwachsene sind um ihre Gesundheit besorgt. Daher nehmen sie Vitamine zur Gesundheitsförderung. Jüngere Erwachsene wünschen sich eine bessere körperliche Leistung. Daher sollen Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel zur Steigerung der sportlichen Leistungsfähigkeit dienen, obwohl nach dem Merkblatt der National Institutes of Health (NIH) zu Nahrungsergänzungsmitteln in Training und Wettkampf nur „wenige Studien einen Einsatz von Antioxidantien in größeren Mengen, als den in einer ausgewogenen Kost vorkommenden, zur Leistungssteigerung rechtfertigen“.
Unkenntnis oder fehlende Überzeugung
Dies wirft die Frage auf, warum die vielen randomisierten Studien, Leitartikel und Stellungnahmen der Gesundheitsbehörden den stetig steigenden Umsatz dieser Produkte nicht bremsen. Es ist möglich, dass die Öffentlichkeit einfach nicht weiß, dass wissenschaftliche Beweise für die fehlende Wirksamkeit vorliegen. Irritierend ist jedoch die Möglichkeit, dass sie sich der Beweise bewusst sind und die Produkte trotzdem verwenden.
In einer in JAMA Internal Medicine veröffentlichten kleinen Untersuchung waren die Leser zu ihrer Einstellung gegenüber rezeptfreien Nahrungsergänzungsmitteln befragt worden. Demnach wollten nur 25% der Befragten von der Verwendung eines Nahrungsergänzungsmittels ablassen, wenn Gesundheitsbehörden es für unwirksam erklärten. Somit scheinen sich 3 Viertel der Befragten nicht darum zu scheren, ob ihr Nahrungsergänzungsmittel wirksam ist oder nicht. Ein erstaunliches Ergebnis, vor allem, wenn man es tatsächlich auf die gesamte Bevölkerung überträgt.